Dunkler November

Friedhofseingang – Caspar David Friedrichs (1774-1840)
Die Tage haben kalte Finger,
der Monat zieht die Socken an.
November ist der Überbringer
von trüber Dunkelheit alsdann.

Das ‚blaue Band‘ ist ausgetauscht,
grau ist die Farbe dieser Zeit,
die Stille herrscht, kein Blattwerk rauscht,
der Baum entleert bizarr sein Kleid.

Bald sind die letzten Blätter unten
und Frost gesellt sich zu der Nacht.
An Gräbern wird das Treiben bunter,
den Toten wird ein Licht gebracht.

Die Hoffnung hinter den Gesichtern
nach leichtem Sinn und Sonnenstrahlen
wird tot geglaubte Seelenlichter
zur Ruhe auf den Friedhof tragen.

Der Engel

von Rainer Maria Rilke

KI generiert
Mit einem Neigen seiner Stirne weist
er weit von sich was einschränkt und verpflichtet;
denn durch sein Herz geht riesig aufgerichtet
das ewig Kommende das kreist.

Die tiefen Himmel stehn ihm voll Gestalten,
und jede kann ihm rufen: „Komm, erkenn!“ -

Gib seinen leichten Händen nichts zu halten
aus deinem Lastenden. Sie kämen denn
bei Nacht zu dir, dich ringender zu prüfen,
und gingen wie Erzürnte durch das Haus
und griffen dich, als ob sie dich erschüfen
und brächen dich aus deiner Form heraus.

Aus: Neue Gedichte (1907)
Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Den Winter umarmen

Er kommt mit großen Schritten;
auf seinen Schultern, drückt die Schwere,
denn was er trägt,
kann nur sein kaltes Wesen tragen,
denn es zerrinnt in wärmevoller Atmosphäre.
Im Rausch des Windes hört man seine Klagen,
die Spuren, die er hinterlässt,
sind Tränen, die zu Schnee geworden.
In Sehnsucht nach Umarmung
darf er nur Kälte geben –
zwiespältig wie das Leben.

Ewige Harmonien

Quelle: Pinterest
Sind die Leben auch verschieden,
währen kurz nur oder lang,
dienen müssen wir hienieden,
Schüler sind wir lebenslang.

Gehen ausgetretene Wege,
Sehnsucht führt zum Lebensort.
Über teils zerbrochene Stege
treibt des Körpers Gang uns fort.

Ein Mensch sind wir nur von vielen,
jeder sucht das Ziel, den Sinn.
Finden schließlich inneren Frieden
nur im ewigen ICH BIN.

Besenrein

Foto: privat 1957
Verdrängung bin ich wie ein Schweigen,
das Erinnerungen wie ein Denkzettel beschwert;
längst vergangene Stunden, deren Treiben
das Bewusstsein wie ein Vakuum entleert.

Bin nichts mehr, nur eine, die gewesen
durch das Tal vergangener Zeiten lief,
die manchmal mit allzu hartem Besen
letzten Schmutz aus ihren Räumen trieb.

Ordnung brachte Licht gerechte Tage,
löste sich von vielen Freundschaftsbändern.
‚Brauner‘ Sinn als infektiöse Plage
ist wie Pest, gefahrlos nicht zu ändern.

Alle sind wir Menschen gleicher Klasse.
Nichts und niemand hat sie zu bewerten!
Die Idee der Schöpfung strahlt aus jeder Rasse;
Herrenmenschen gibt es nicht auf Erden.

Lieber bleibe ich alleine in Gedanken -
besser als verdorbenes Wort zu reden.
Will dem Schöpfer jede Stunde danken,
die ich hier sein darf, im Garten Eden.

Trauer

von Selma Meerbaum Eisinger

Lichter spiegeln sich in schmutzig-nassen Pfützen,
gelb und fettig, schmutzig auch und schwer.
Helle Häuserfenster können gar nichts nützen.
Tore, Hallen hehr und leer.

Liegt der Nebel müde auf den Straßen
und der Regen rinnt und rinnt.
Menschen sind zu traurig, um sich noch zu hassen,
und es hüstelt irgendwo ein Kind.

In den Gärten liegen halbverfaulte Blätter,
stehen Bänke, traurig, nass und grau,
kommt die Sonne immer seltener und später,
nimmt’s der Mond mit Scheinen nicht genau.

Dringt das halbe Tageslicht noch durch den Nebel,
trüb und grau und klebrig schwer.
Klirrt die Wache schläfrig mit dem Säbel
und ein nasser Vogel zittert sehr.

Stehen dürre, hungrige Pferde
dampfend da, mit müden Augen.
Ganz durchweicht, verstreut auf nasser Erde,
kann der Hafer nicht mehr taugen.

An der moderigen Mauer
eine nasse Katze schleicht.
Mit hervorgekehrtem Pelz ein Bauer
schaut, ob ihm das Geld noch reicht.

Dez.1940
Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942)

Nebelträume

Image by Zsolt Hegyi from Pixabay

Die Welt ist grau, trägt Schleier in den Bäumen,
es wabern Nebel durch den Straßenzug.

Der Übergang von Nacht zu Tagesträumen
gleitet im zeitlos unbemerkten Flug.

Die Vögel sind verstummt, kein Liebessingen;
die bunten sind dem Grau der Stadt entflogen.

Die Melodie aus hellen Vogelstimmen
ist nun ein Moll betontes Krähen droben.

Das Jahr geht hin, ihm folgen viele Pläne,
die bluterfüllt wie offene Wunden sind;

lebensberaubt wie ausgetrocknete Kanäle,
machen für Zuversicht die Augen blind.

Nebel verbirgt die Menschenferne,
wie sie tagtäglich fremd auf Straßen wandelt.

Nicht eine Seele für mich! Nur zu gerne
hat die Tristesse mich unsichtbar verschandelt.

Mein Herz sehnt sich nach alten Stätten,
dem Elternhaus, wo längst ein Fremder wohnt.

Erinnerungen zieren Schicksalsketten,
verklärt mit Nebel, der in Hirnen thront.

Fremdes Bild

Vexierbild „All is Vanity“ (Alles ist Einbildung),
eine Illustration des amerikanischen Künstlers Charles Allan Gilbert (1873-1929)
Fremdes Bild im matten Spiegel.
Wer bist du? Mein Konterfei?
Bist wie ein vergrämter Schatten,
Licht bezeugt nicht faltenfrei.

Treibst aus den Erinnerungen,
die dich dunkeln, lebenslang;
bist im Einst der Zeit gefangen,
die Erinnerung, dein Zwang.

All die einst gelebten Stunden
waren schnell vergangene Zeit.
Viel gerungen, viel vergessen –
Leben webte dir dein Kleid.

Was begehrt und was verloren,
liegt auf deinem Weg des Wandels;
der Vergebung hartes Los
zeichnet mild und abgehandelt.

In den Tiefen deiner Seele
schlummern Träume, die verloren,
nur der Hoffnung weiche Welle
wiegt dich in den neuen Morgen.

Zeit für Wahrheit

Die Zeit – unruhiger Geist der Uhren,
unhaltbar rinnt sie davon.
Von Gegenwart zu Vergangenheit
pendeln die Sekunden mit jedem Ticken;
Sekundenträume,
die im Zeitlosen schweben,
dort verweilen,
bis ein neuer Traum sie erlöst.

Zeit – wenn sie nicht bleibt, was nutzt das Wissen
um die Wahrheit der Welt in dieser Stunde?
Könnten wir die Zukunft ertragen?

Erkennen wir die Wahrheit des Lebens?
Es würde doch nur ein Resümee des eigenen sein,
nicht das der anderen.

Was nutzt es, wenn man nur einem Teil wahrhaftig wird?
Die Menschen sehen uns, wie wir unser Spiegelbild.
Es ist uns fremd. Wer sind wir wirklich?
Könnten wir die Wahrheit ertragen?

Wahrheit klebt an den Fingern der Theorie,
haftet dort einen Augenblick,
bildet in der Wissenschaft eine ständig neue.

Niemals erreicht sie den Boden der Wirklichkeit,
füllt sich immer wieder
mit Erkenntnissen im Wandel der Zeit.

Reif werden wie sonnenbestrahlt
und stark genug sein wie ein Baum,
um Wahrheit zu tragen.

Lebenszeit ist ein flüchtiges Gut;
übe das Ausruhen im Rückzug nach Innen.

Nutze den ‚Augenblick‘ deiner körperlichen Existenz
zum Heil deiner Seele im irdischen und astralen Bereich.
Irgendwann wirst du dort sein, im zeitlosen Raum,
um die ganze Wahrheit zu sehen!

Weisheit und Wahrheit – Pierre-Paul Prud’hon (1758-1823)

Erstarrter Geist

Bild: Karin M.
Kann Stille jemals lautlos sein,
wie scheinbar Starres schwingende Atome trägt,
den Augen unsichtbar, uns Fragen auferlegt
in dieser Welt des ewig Wandelbaren?

Die Dichte lebt, was nur im Licht gewahr,
und jeder Stein, so hart er scheint, trägt offenbar
ein unscheinbares Schwingungsfeld
in diese scheinbar starre Welt.

Der Menschenblick erliegt der Illusion.

Die Sonnensehnsucht ist der Wüste Tod!
Gleich der des Erdbeschwerten, der sich selbst genügt.
Geistig der Tod im Reich der Selbstverliebten,
die seelisch stumpf sind, blind vom Spiegelglanz,
verlieren sich im Licht der Arroganz.

Was ist der Sinn im Dur und Moll des Lebens?
Geistiger Tanz – das Auf und Nieder singt ein Lied
und plötzlich wird die Stille selbst zur Melodie:
Bewusstsein ist die Kraft der Fantasie.